Grenzsetzungen und Überwindung von Grenzen in der Flüchtlingsfrage aus poststrukturalistischer Sicht. Das Beispiel Latein-
Die Frage des Vortrages ist, welche Grenzsetzungen sich in der lateinamerikanischen Migration zeigen und welche Wege es gibt, diese zu überwinden?
Dabei ist die weitere Frage, ob der poststrukturalistische Ansatz hilfreich sein kann?
Eine Befundaufnahme der lateinamerikanischen Migration zeigt, dass diese ähnliche Merkmale wie diejenige nach Europa, aber auch Unterschiede aufweist. Die lateinamerikanische Migration als Massenerscheinung dauert schon ziemlich lange und weist größere Dimensionen als die Migration aus Afrika, dem Balkan und Osteuropa nach Mittel-
In einer Studie der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik bei der UNO) von 2014 wird festgestellt, dass zwischen 2005 und 2010 28 Mio. Lateinamerikaner ins Ausland migrierten, davon 23 Mio. in die USA. Heute leben ca. 12 Mio. Migranten aus Lateinamerika in den USA ohne Papiere. Andere Formen der Migration sind die Binnen-
Die gleichen Zustände herrschen in den zentralamerikanischen Ländern Guatemala, Honduras und El Salvador, trotz der Transformation von grausamen Diktaturen zu sogen. Demokratien. Honduras ist das Land mit der höchsten Mordrate weltweit, Journalisten, Politiker und Juristen werden immer wieder Opfer von Mordanschlägen, wie erst kürzlich der Mord an der Umweltaktivistin Berta Caceres. Sie kämpfte gegen eines der größten transnationalen Energieprojekte des Landes, das Megastaudamm-
Nach einer Umfrage des Latinobarometros der Universität von Vanderbilt wollten 2014 21,8 aller Lateinamerikaner ihr Land verlassen, Gewalt war immer die erste Begründung. In Honduras waren es 31,8 Prozent der Menschen, die aus dem Land wollten.
Nun möchte ich zum theoretischen Erklärungsansatz der Migration in Lateinamerika kommen. Ein wichtiger Ansatz ist der Poststrukturalismus, der sich über den Begriff der Identität dem Problem der Migration annähert. Die Vertreter des Poststrukturalismus (z.B. Foucault, Deleuze, Derrida) gehen nicht von festen Identitäten, sondern von mobilen Identitäten aus. Die Identität, die als Zusammenwirken von Innen und Außen definiert werden kann, funktioniert für die Benachteiligten in Lateinamerika unter den Bedingungen der Existenznot und der Gewalt nicht. Auf ihrer Flucht und der Suche nach einer neuen Identität wechseln sie ständig die Orte, stehen wechselnden Herausforderungen gegenüber und treffen auf immer neue MigrantenInnengruppen. So entstehen mobile Identitäten, die für die Migranten eine Überlebenschance darstellen und für die Aufnahmegesellschaften die Aufforderung der Veränderung beinhalten.
Ich möchte nun mit Jacques Derrida weiterarbeiten, insbesondere mit den Begriffen des „Eigenen“, des „Fremden“ und der Figur des „Ankommenden“. Derrida unterschied zwischen zwei Formen des Fremden, die er besonders in seinen Büchern „Von der Gastfreundschaft“ und „Politik der Freundschaft“ herausarbeitete. Zum Einen wird das Fremde als Bedrohung für das Eigene wahrgenommen, was die verheerende Konsequenz von Rassismus, xenophober Einstellungen und Faschismus in sich trägt. Diese Auffassung des Fremden ist vor allem in geschlossenen Gesellschaften vorzufinden, die sich gegenüber dem Fremden abgrenzt. Die Auffassung, dass das Fremde als Herausforderung und Bereicherung begriffen wird, hat die Konsequenz von Solidarität, Hybridität und Diversität. Diese beiden Verhaltenspole entsprechen den Charakteristika von offenen Gesellschaften, die Grenzen niederreißt und Grenzen gegenüber dem Anderen und dem Fremden öffnet. Die verschiedenen Auffassungen vom Fremden bringt Derrida wiederum mit zwei verschiedenen Formen von Gastfreundschaft zusammen. Er untersucht an den Beispielen von Sokrates, Ödipus und der Geschichte von Loth aus der Bibel, dass Gastfreundschaft ein der menschlichen Gesellschaft inhärente Eigenschaft ist. Er arbeitet wiederum zwei Pole der Gastfreundschaft heraus: die „bedingungslose, absolute Gastfreundschaft“ und die durch die Gesetze „begrenzte bedingte Gastfreundschaft“. Beide Formen bedingen einander, schließen sich aber auch aus. In seinen Büchern wird sichtbar, dass er eine im Kommen befindliche noch nicht gedachte Demokratie erwartet, die sich gegenüber einer bedingungslosen Gastfreundschaft, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit und Freundschaft verpflichtet fühlt.
Um sich einer Politik der Freundschaft und der „Bedingungslosen Gastfreundschaft“ als Ideal anzunähern, hält es Derrida für unabdingbar, aus der Perspektive des „Fremden“ und des „Ankommenden“ auf das Selbst oder das Eigene zu schauen. Hier ist eine Übereinstimmung mit dem mexikanischen Bischof Raul Vera auszumachen, der sagte: „Jede Lösung der Krise müsse die Perspektive der Migranten selbst berücksichtigen. Dies müsse auch Europa lernen, verstehe der erst seit kurzem von einer großen Flüchtlingsbewegung erfasste Kontinent doch noch herzlich wenig von Migration.“
Den poststrukturalistischen theoretischen Ansatz von mobilen Identitäten, des Umgangs mit dem Fremden und des Phänomens der Gastfreundschaft soll anhand der Migrationspolitik der USA und Mexikos und der Konstruktion alternativer autonomer Räume durch die Migranten selbst überprüft werden. Dabei sollen Schlussfolgerungen für die Frage von Grenzsetzungen und offenen und geschlossenen Gesellschaften gezogen werden.
Die Migrationspolitik der USA als klassischem Einwanderungsland ist sehr ambivalent. Sie zeigte sich immer als offene als auch geschlossene Gesellschaft, in der die alten Migrationsgruppen Grenzen gegen neue Migranten setzt. Das Gedicht unter der Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt von New York war immer ein Mythos, dessen Realisierung jedoch ausblieb. Dort heißt es: “Give me your tired, your poor/Your huddled masses yearning to breathe free” („Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei atmen zu können"). Dieser Aussage zum Trotz prägte Angst gegen Überfremdung und Herabwürdigung bestimmter Ethnien den Widerwillen gegen Migration, der sich schließlich in Gesetzen niederschlug. Auf der Grundlage der Quotenregelung von 1921 wurde im Einwanderungsgesetz von 1924 die Zuwanderungsrate auf 150.000 Personen pro Jahr festgelegt und ein Quotensystem basierend auf der nationalen Herkunft der Einwanderer eingerichtet, das die Zuwanderung aus den nord-
Somit ist auch die Einwandergesetzgebung der USA gegenüber Lateinamerikanern äußerst widersprüchlich. Einerseits wurde in den USA Arbeitsmigration gefördert, wie z.B. das offizielle Anwerben mexikanischer Arbeitskräfte in den 1960er Jahren. Die Emigration aus Kuba wurde aus politischen Gründen aktiv gefördert. 1966 verabschiedete die US-
Die Migrationspolitik der USA kann man im Sinne von Derrida einerseits als Politik der bedingten Gastfreundschaft aus Eigennutz und nicht aus dem Blickwinkel des Fremden bezeichnen und andererseits, wenn es um die Abschiebung und Abschreckung gegenüber von illegalen Flüchtlingen geht, als Politik der Abwehr des Fremden. Das Fremde wird im Sinne einer geschlossenen Gesellschaft als Bedrohung empfunden und der Sicherheitsfrage untergeordnet. Der Druck der republikanischen Politiklobby zu einer Verschiebung der Migrationspolitik in Richtung von Abwehr und Verstärkung der Grenzen gegen Migration führte unter Obama zu einer Zurückdrängung der bedingten Gastfreundschaft und bestärkte damit Rassismus und xenophoben Einstellungen in der Bevölkerung, wie dies an der breiten Unterstützung des rassistischen Präsidentschaftskandidat der Republikaner Donald Trump sichtbar wurde. Trump erklärte, dass er eine Mauer zwischen Mexiko und den USA bauen wolle, deren Kosten die Mexikaner selbst tragen sollen, dass er alle illegalen Migranten deportieren will und dass die mexikanischen Migranten „Vergewaltiger“ und „Drogenhändler“ seien. In der Unterstützung von Donald Trump durch große Teile der Bevölkerung drückt sich die Angst vor dem Fremden, das als Bedrohung des Eigenen empfunden wird, aus.
Mexiko ordnete sich im Wesentlichen der Migrationspolitik der USA und seiner Rolle als Stellvertreter der USA unter. Einerseits unterstützen alle mexikanischen Regierungen die in den USA lebenden Mexikaner, auch wenn diese keine Papiere haben. Entscheidend dabei sind die sogen. Remesas – Rückführungen, die Gelder, mit denen die in den USA lebenden Mexikaner ihre Familien unterstützen. 2008 waren es 25 Mrd. Us-
Die restriktive Migrationspolitik der USA und Mexikos und der Nordstaaten Zentralamerikas führte nach neuesten Untersuchungen nicht zum Rückgang der Migration aus Lateinamerika, da die Fluchtursachen sich weiter verschärfen und mit dem Zusammenbruch der neuen Demokratien in Südamerika noch intensivieren werden. Die Ergebnisse liegen vor allem in der Verschlechterung der Menschenrechtslage der Migranten, die nun gefährlichere Wege auf sich nehmen müssen und größeren Risiken ausgesetzt sind. Die Zahl von 70.000 bis 120.000 verschwundener Migranten aus Zentralamerika z.Z. spricht für sich. Außerdem führte die restriktive Migrationspolitik zu einer Militarisierung und Kriminalisierung der Gesellschaften, denn Migration wird ein immer profitableres Geschäft. Da dieses Geschäft illegal ist, hat es ähnliche Strukturen wie das Drogengeschäft und überkreuzt sich mit diesem immer deutlicher. Damit vertiefen sich die Grenzen und Spaltungen in den lateinamerikanischen Gesellschaften.
Die Lösung des Migrationsproblems kann nicht von den USA oder von korrupten lateinamerikanischen Regierungen erwartet werden. Diese Lösungen können nur aus der Mitte der Gesellschaft kommen, aus der Erkenntnis, dass die bisherigen Lösungsmethoden versagt und die Gesellschaften weiter gespalten haben. Die Richtung autonomer alternativer Räume ist ein Anfang, um Grenzen zu überwinden. In Mexiko gibt es eine ausgesprochen große Zahl von gesellschaftlichen Initiativen, die eine andere Kultur des Zusammenlebens praktizieren und Grenzen überwinden. Dazu gehört in Mexiko der Nationale Indigena-
Auch die Zapatisten setzten sich zu einem großen Teil ursprünglich aus von ihrem Boden vertriebenen Binnenmigranten zusammen, die sich gemeinsam gegen eine ihr feindlich gestimmte Umwelt verteidigen mussten. Sie bestehen aus verschiedenen indigenen Völkern mit unterschiedlichen Namen, Sprachen und Kulturen und entwickelten im Laufe ihres Widerstandes eine Kultur der Transkulturalität und Diversität, die sie bis heute beibehalten haben. Inzwischen haben die zapatistischen widerständischen Gemeinden einen autonomen alternativen Raum errichtet, in dem Basisdemokratie, Kollektivität, Gendergerechtigkeit und Naturschutz oberste Prinzipien sind.
Ähnliche Räume entstanden im Gefolge der Borderline-
Aus der eigenen Perspektive der MigrantInnen treten diese für die Bekämpfung der Fluchtursachen und nicht des militärischen Vorgehens gegen die Flüchtlinge ein. Auch fordern sie ein Recht auf Migration, was das Recht auf Transitrechte und Reisemöglichkeiten beinhaltet. Nur so können Migranten vor gefährlichen Wegen und illegalen Migrationsrouten bewahrt werden.
Alternative autonome Räume hybrider Kulturen mit einem Trend zur unbedingten Gastfreundschaft sind Teil der Gesellschaften geworden. Migration befördert diese Räume. Sie tragen das Potential in sich, geschlossene Gesellschaften aufzubrechen und Grenzen zu überwinden. Zwischen den MigrantInnengruppen existieren transnationale Netzwerke mit NGOs, zivilen Menschenrechtsgruppen und der UNO. In diesen Netzwerken existiert eine bedingungslose Gastfreundschaft. Die genannten Räume verändern die Zielgesellschaften und verursachen Risse in den geschlossenen Grenzen. Die Kultur dieser Räume werden zu Bausteinen, die dem neoliberalen Mainstream entgegengesetzt sind und soziale, ethnische, und kulturelle Spaltungen überwinden helfen. Das Fremde wird als Herausforderung und Bereicherung empfunden. Hier ist der Einbruch des Eigenen in das Fremde und des Fremden in das Eigene zum Alltäglichen geworden.